Janet Sterritt-Brunner eines unserer Vorstandsmitglieder berichtet über die Lockdown-Stimmung in Großbritannien.
Wie geht es den Menschen in UK während der Corona-Pandemie? Keine einfache Frage – und die Antwort(en) darauf ist (sind) so komplex bzw. so schräg wie alles auf dieser Insel. Meine Einsichten basieren auf Antworten aus meiner Familie in England und Wales sowie Freunden überall. Ich verzichte auf politische Meinungen in meinem zerrissenen Heimatland – ein Land das Brexit in letzter Sekunde durchgepeitscht hat und die internen Probleme der Pandemie gleichzeitig bekämpfen muss…
Die Tragweite des 1. Lockdowns, der im März 2020 in UK verhängte wurde, war ähnlich wie in Deutschland, anfangs nicht abzusehen. Es gab die gleichen unsinnigen Wellen des Panikkaufens wie hier – leere Regale in den Supermärkten – es fehlte Klopapier, Desinfektionsmittel, Mehl und Hefe. Allmählich lernten wir doch alle mit dem Alltag umzugehen.
Meine Tochter und ihr Freund wohnen in einer Kleinstadt Horsham, eine Stunde südlich von London entfernt. Sie ist Gymnasiallehrerin, ihr Freund selbstständig. Als die Schulen geschlossen wurden, musste sie lernen mit digitalem Unterricht umzugehen und durch Google-Classroom live ihre Stunden abzuhalten. Für ältere Klassen war es möglich Aufgaben vorzubereiten und hochzuladen. Trotzdem muss sie Notgruppen alle 14 Tage betreuen und trotz eigenem Visier und Maskenpflicht für die Schüler fühlt sie sich unzureichend geschützt. (Nicht alle kennen den Stress stundenlang vor dem PC zu sitzen, vor und nach der Schule gibt es unzählige Konferenzen und Teambesprechungen, um mit der Situation umzugehen) In ihren Klassen hat sie Schüler, die Familienmitglieder an Corona verloren bzw. sich aus Verzweiflung umgebracht haben, keine alltägliche Situation.
Aber was hat sie „gerettet“? Sie hatte das Glück in einem nahgelegenen Park spazieren gehen zu können – anfangs auf eine Stunde beschränkt. Die Landschaft um Horsham ist sehr reizvoll und unter Einhaltung der 15 Meilen Beschränkungen haben sie und ihr Freund wunderschöne Ecken kennengelernt. In der Straße, wo sie wohnen, gab es im Sommer eine Distanz-Straßenparty: die Familien kamen aus Ihren Häusern mit gekühlten Getränken und Snacks und unterhielten sich miteinander. So lernten Sie ihre Nachbarn besser kennen, die ansonsten meistens nach London pendelten, aber jetzt zum Home Office verdammt waren…
In dem jetzigen Lockdown hat ihre Nachbarin (Kosmetikerin vom Beruf) einen Online-Beauty-Abend organisiert. Es waren insgesamt sechs Frauen, die sich über Skype angemeldet hatten. Die Damen wurden von der Kosmetikerin vorab mit Beauty-Produkten entsprechend ihrem Hauttyp ausgestattet und erhielten Online Anweisungen, was zu tun war – eine sehr kreative Idee in diesen tristen Zeiten!
Als Familie halten wir engen Kontakt und telefonieren regelmäßig miteinander. Gemeinsam haben wir online unsere Geburtstage gefeiert. Eine nette Ergänzung sind unsere „Quiz Abende“ – jeder in der Runde bereitet 10 Fragen vor. Die Themen sind sehr divers – aber wir lernen immer etwas dabei. Preise gibt es nicht, nur die Freude sich zu sehen und zu interagieren!
Meine Schwester, die auf dem Land lebt, hat die Corona-Regeln bis ins letzte Detail befolgt. Sie ist eine Risikopatientin und hat sich weitestgehend abgeschirmt und hat den Hof, wo sie wohnt für sechs Monate nicht verlassen. Ihr Mann ging ins Dorf einkaufen und sofern nötig, ließen sie sich von größeren Supermärkten beliefern. Das Schlimmste für sie, war die Tatsache, dass sie ihre Tochter und Familie – vor allem die kleinen Enkelinnen nur über die Gartenhecke sehen durfte. Niemand betrat ihr Haus. Eine weitere Tochter arbeitet in einem Krankenhaus in der Nähe von London, wo es die ersten Corona Todesfälle gab. Ihr Sohn und Schwiegertochter wohnen in Bristol. Die Ausgangssperren in Wales und England waren unterschiedlich – so konnten sie sich kaum sehen.
England hat gelockert, aber Wales nicht. So kam es, dass sie den Anfang November geborenen Enkel erst zu Weihnachten sah. Aber für sie, wie für so viele andere bot die Natur die Möglichkeit sich abzulenken. Ihr ohnehin wunderschöner Garten erfuhr noch mehr Liebe, der Nutzgarten brachte im Herbst reichlich Ernte, die eingemacht bzw. eingefroren wurde.
An dieser Stelle muss ich eine sehr skurrile Geschichte erzählen, es wissen bestimmt ganz wenig von Euch, dass der 2. Mai im Vereinigten Königreich zum „Naked Gardening Day“ designiert wurde – hier ein Bild meiner Schwester in ihrem weitläufigen Garten!
In Llantwit Major, meinem Geburtsort, einem kleinen walisischen Dorf unweit von Cardiff, entstand eine kleine Hüttenbibliothek, die gerne angenommen wurde und immer mit neuen/alten Büchern bestückt wurde.
Gute Freunde von mir wohnen außerhalb von Chichester und haben ebenfalls das Glück einen großen Garten zu besitzen. Ihre Freude waren ausgedehnte Spaziergänge in den South Downs. Sie haben sehr musikalische Nachbarn, die früher in einer Band spielten. Barrie, der Pianist, setzte sich jeden Abend im 1. Lockdown an sein Klavier, schön angezogen, immer schöne Blumen sowie ein Drink darauf abgestellt und spielte. Er ließ alle Fenster offen, damit die Nachbarn ihn hören konnten. Dann fing seine Frau an, ihn zu filmen und prompt wurde jeden Abend ein kleines Video produziert, das auch immer an uns geschickt wurde.
Eine alte Uni-Kommilitonin von mir wohnt in Oxford und berichtet, dass es einige Musiker in ihrer Straße gibt. Die kamen immer wieder vors Haus und haben in ihren Vorgärten musiziert. Es kam zu spontanen Konzerten und so lernte auch sie, so paradox es klingen mag, viele Menschen aus der Straße so besser kennen. Am Heilig Abend kamen ALLE vors Haus und haben, natürlich, schöne Weihnachtslieder gespielt.
Eine Person hat sich auf ganz besonderer Art und Weise in die Herzen der Briten gelaufen, nämlich Captain Tom Moore (später Sir Thomas Moore), der leider am 2. Februar 2020 verstarb. Dieser alte Herr, rekonvaleszent von einer Hüftoperation, hatte es sich zum Ziel gesetzt 1000,- Pfund für den National Health Service vor seinem 100. Geburtstag zu spenden, in dem er mit seiner Gehhilfe Runden in seinem Garten erlief. Zum Schluss beliefen sich die Spenden auf 32,7 Mio Pfund. Er bekam dazu einen zweiten Eintrag im Guinness Buch der Rekorde, weil er die Nummer 1 in den britischen Charts mit seiner Version von „You’ll never walk alone“ wurde.
Hier in Deutschland und in der ganzen Welt durchleben die Menschen sehr ähnlich, sehr anstrengende und traurige Zeiten. Die obigen Beispiele sollen ein wenig zeigen, dass trotz der widrigen Umstände positive Begegnungen und ein Gefühl für ein besseres Miteinander entstehen können.
Dieser Artikel ist unter Mithilfe meiner Familie und Freunde/innen in UK entstanden. Ein kleiner Einblick des Lebens auf der anderen Seite des Kanals.